Offener Brief an Grüne Ratsfraktion
Offener Brief an die Grüne Ratsfraktion Münster
Welch grandioser Erfolg für die Grünen bei der Landtagswahl gestern! Expert*innen führen die große Zustimmung neben landespolitischen Aspekten vor allem auf die überzeugende, faktenbasierte, empathische und bestens kommunizierte Politik von Annalena und Robert zurück. Dem würde vermutlich niemand widersprechen. Blicken wir dagegen auf die Lage in der münsterschen Kommunalpolitik, erkennen wir diese Qualitäten kaum wieder. In der Frage des 300-Millionen Projekts Musik-Campus kann grüne Politik kaum weniger faktenbasiert, überzeugend, empathisch oder gar gut kommuniziert sein. Anstatt die Reihen zu schließen, und gemeinsam mit Partei, Fachleuten und Bevölkerung die richtigen Entscheidungen zu treffen, schottet sich die Ratsfraktion ab: nicht nur gegen die Parteibasis, ihre Gremien und AGen, sondern mit der Ratsvorlage V/033/2022 jetzt auch gegen die Kulturschaffenden der Freien Szene, die grüner Kulturpolitik bisher immer ein großes Anliegen waren.
Am 2. Mai hat sich das Große Plenum von moNOkultur gegen den geplanten Musik-Campus ausgesprochen. Von 26 Anwesenden hat nur ein einziger Vertreter für den Campus gestimmt. Eine öffentliche Stellungnahme vom 6. Mai fasst die Gründe überzeugend, faktenbasiert, empathisch und zukunftsgerichtet zusammen. Ich zähle sie hier verkürzt auf:
– Die finanzielle Dimension bereitet allen Kulturschaffenden der Freien Szene (nicht nur den Musiker*innen!) große Sorgen, da sie eine Haushaltssicherung wegen der finanziellen Risiken des Millionenprojekts in wenigen Jahren erwarten lässt. Die freiwilligen Leistungen der Kommunen würden als erstes gestrichen.
– Die Konzentration der Musikaktivitäten an einem einzigen Ort läuft dem dezentralen und vielfältigen Kulturverständnis und dessen Umsetzung an vielen geeigneten Orten der Stadt regelrecht zuwider.
– Die freien Kulturschaffenden hegen starke Zweifel an den angekündigten Synergieeffekten zwischen den vier Ankernutzern. Die Institutionen hatten in den vergangenen Jahren höchstens punktuelle Interessen an einer Zusammenarbeit mit der Freien Szene. Ein gemeinsamer Standort würde daran vermutlich nichts ändern. Die Aufgeschlossenheit müsste in den Köpfen beginnen.
So weit moNOkultur. - Aber auch die vielfach versprochenen Synergien zwischen den drei Institutionen sollten wir anhand von Fakten und nicht von rosigen Versprechungen überprüfen. Es geht mir hier um das künftige Zusammenwirken zwischen Westfälischer Schule für Musik und Musikhochschule der WWU.
Wie sieht die nahe Zukunft in der Musikausbildung aus? Das ab 2026 zugesicherte Recht auf einen Ganztagsplatz in den Schulen wird dazu führen, dass den Kindern kaum noch Zeit bleibt für Aktivitäten außerhalb der Schule. Das heißt: auch Musikschulunterricht könnte nur noch zwischen Schulschluss und Abendbrot stattfinden. Lehrende hätten nur noch wenige mögliche Arbeitsstunden pro Tag. Wird es zu der Entwicklung kommen, die in anderen Ländern längst vollzogen ist und Instrumentalunterricht vorwiegend an den allgemeinbildenden Schulen stattfindet? Wird die Musikhochschule in Münster endlich statt der Ausbildung von Künstler*innen, denen die Arbeitslosigkeit winkt, stärker die Ausbildung von Musikpädagog*innen fördern, um dem vom Verband der Musikschulen vorausgesehenen Mangel an Lehrkräften zu begegnen, wenn in den nächsten fünf Jahren die Babyboomer in Rente gehen?
Welche Räume benötigt die Musikausbildung der Zukunft? Den Musik-Campus als zentralen Ort, oder den Ausbau und die Ertüchtigung der bereits vorhandenen dezentralen Dependancen der WSfM in den Stadtteilen? Wird es eine Konzentration der Musikhochschullandschaft mit ihren derzeit 24 Hochschulen geben, deren Anzahl von vielen Fachleuten als sachlich nicht mehr begründbar eingeschätzt wird, gemessen an der Zusammensetzung der Studierendenschaft und ihren Berufsaussichten. Und welche der Hochschulen würden dann weiterbestehen? Die großen renommierten (in NRW wären das Köln, Düsseldorf, Essen und Detmold) oder die kleinen? Viele ungeklärte Zukunftsfragen. Aber die Grüne Fraktion will ohne entsprechende Studien am 18. Mai das Projekt befürworten, das frühestens in acht bis zehn Jahren realisiert wäre und dann für hundert Jahre halten soll.
Wie war das Vorgehen der Grünen Fraktion zum Thema Musik-Campus in den letzten Wochen? Kurz vor der letzten Ratssitzung hat Unirektor Dr. Wessels mitgeteilt, er werde aus dem Projekt aussteigen, wenn der Rat sich nicht eindeutig zum Musik-Campus bekenne. Man konnte diesen Schritt durchaus als Erpressungsversuch verstehen. In einem hektisch während der Ratssitzung einberufenen Gespräch des Ratsbündnisses wurde dann dieser Erpressung freundlich stattgegeben. Der eigentlich vorbereitete Antrag verschwand im Papierkorb stattdessen wurde das Projekt Musik-Campus nun im Sinne Wessels/Lewe begrüßt.
Schon mit diesem Schritt hat sich die Fraktion über die Beschlüsse zweier Mitgliederversammlungen der Partei hinweggesetzt, genauso wie über die Beschlüsse der Kultur-AG als Gruppe der Fachleute, sowie Gremien wie der Bezirksvertretung Mitte.
Unser Oberbürgermeister lernt schnell: wenn sich die Grünen so leicht erpressen lassen, lege ich noch einmal nach. Die Folge war der haarsträubende Entwurf der Verwaltung, in dem nun alle Dämme politischer Kultur brachen. Die Verwaltung (als ausführendes Organ) sagt den gewählten Vertreter*innen der Bürgerschaft, deren Beschlüsse sie eigentlich nur umzusetzen haben, was diese Ratsmitglieder zu denken, zu formulieren und zu beschließen haben. Verkehrte Welt. Unter dem nicht überprüfbaren Vorwand, förderschädliches Verhalten bei der Beschaffung der fehlenden Finanzmittel der Politik vermeiden zu wollen, gab es Hinweise, wie das Thema Musik-Campus zukünftig zu behandeln wäre. Essenzielle Passagen des 14-Punkte-Papiers der Grünen wurden als förderschädlich gebrandmarkt und schlicht gestrichen oder in ihr Gegenteil verkehrt. Bundestagsabgeordneten aus Münster wurde eingeredet, welche Meinung sie in Zukunft zu haben hätten, Finanzvorbehalte waren nicht mehr zulässig, den ökologischen Bedenken zum Arzneimittelgarten wurden die Zähne gezogen, jetzt ist wieder alles möglich.
Und unsere Grüne Fraktion? Diskutiert ernsthaft dieses Papier und bringt in der Folge die Beschlussvorlage V/033/2022 für den 18. Mai heraus, in dem die wichtigsten Vorgaben der Verwaltung wiederzufinden sind. Alle vorherigen Bedenken gegen den MC sind weggewischt, der Finanzierungsvorbehalt aufgeweicht. Auch die zweite Erpressung hat also funktioniert, weitere werden folgen.
Fazit: die Grüne Fraktion agiert ohne Verbindung zur Basis, zu den Gremien der Partei, zu den Bevölkerungsgruppen, für die sie eigentlich Kulturpolitik machen sollte. Sie schwebt über den Wolken. Die sind allerdings ziemlich schwarz, und der Absturz droht.
Alle Fraktionsmitglieder sollten sich spätestens jetzt aufgerufen fühlen, Politik wie Annalena und Robert zu machen: faktenbasiert, überzeugend, empathisch, mit Weitblick, und für Alle verständlich und nachvollziehbar! Dann wird es auch kommunale Wahlerfolge der Grünen geben.
Joachim Harder
Münster, den 16. Mai 2022